EIN WIEDERSEHEN NACH 45 JAHREN

AUTOR: Josef Theobald

Die Großeltern waren mit ihren zwei Töchtern im Ost-
harz evakuiert. Diese kamen damals bei einer Fami-
lie Försterling unter. Auch sie hatten eine Tochter im
gleichen Alter wie die ältere Tochter Gisela.

Nach der zweiten Evakuierung (Die Försterlings ta-
ten alles, dass die Großeltern erneut im Ostharz
evakuiert werden konnten) brach jeder Kontakt ab.
Die US-amerikanischen Truppen zogen sich zurück,
russische Einheiten nahmen deren Platz ein.

Die Försterlings bewohnten einen Erbhof. Die NSDAP
entdeckte die Bauernschaft als zuverlässige Mitglieder.
Das sollte sich mit dem Machtantritt der Kommunisten
rächen. Im Gegensatz zu Westdeutschland, in dem die
Landwirte als Agrarunternehmer einen Persilschein er-
hielten, wurden in der Sowjetzone alle Anhänger der
NSDAP verfolgt und in Internierungslagern inhaftiert.

Der Großvater war zu dieser Zeit öfters im Ostharz,
wo er die Försterlings bei der Abgabe von Naturalien
unterstützte. Im Saarland erhielten die Bürger bis zur
Rückgliederung einen Interzonenpass, der auch die
Einreise in die Sowjetzone ermöglichte. Mit einer
Aufenthaltserlaubnis war es schließlich möglich,
der Familie Försterling aktiv zu helfen. Bis in die
Siebziger Jahre wurden noch Weihnachtspakete
verschickt. Angesichts der Ausweitung des Aus-
senhandels konnte die DDR bisher knappe Güter,
wie Kaffee, Kakao, Gewürze usw., nun selbst be-
schaffen.

Bis 1961 waren es 2,7 Millionen Bauern, fast ein
Sechstel der Bevölkerung, die infolge der Kollek-
tivierung der Landwirtschaft die DDR verließen.
Die Försterlings blieben.

Nach dem Bau des Eisernen Vorhangs war der
Ostharz mit Halberstadt und Wernigerode ein
militärisches Sperrgebiet. Westbürger durften
dieses Gebiet nicht betreten.

Die Tante Gisela hatte vergeblich versucht, den
Kontakt zu den Försterlings aufzunehmen. Auch
der Versuch durch eine Mittelsperson scheiterte.

Erst 1990, als der Pensionärsverein der Dillinger
Hütte den Ostharz besuchte, bestand auf einmal
wieder die Gelegenheit, einen erneuten Kontakt
zu wagen. Die Tochter Anneliese lebte noch. Sie
war schon Urgroßmutter. Die Urenkeltochter hat
heute selbst ein Kind.