8. MAI 1945: TAG DER BEDINGUNGSLOSEN KAPITULATION

AUTOR: Josef Theobald

Viele, die an den 8. Mai denken, verbinden diesen Tag mit der
Niederlage Nazideutschlands im II. Weltkrieg und mit der damit
verbundenen Befreiung der KZ-Häftlinge.

Doch war dieser Tag für viele Deutsche ein Tag heraufkommen-
der und zu bewältigender Probleme.

Nur ein Teil der Deutschen konnte von zu Hause aus die Amerika-
ner und Briten mit weißen Fahnen begrüßen.

Nicht wenige Deutsche lebten zum Zeitpunkt der Kapitulation gar
nicht zu Hause. Die Leute aus der Roten Zone wurden evakuiert.
Diese lebten verstreut im Reichsgebiet, wie im Harz, in Teilen Ba-
yerns, z. B. in Mittelfranken, und in Thüringen. Erst nach einer Ge-
nehmigung der amerikanischen Militärverwaltung durften sie wieder
in die Heimat, und zwar mit Pferdewagen auf vorgeschriebenen Rou-
ten. Waren sie endlich zu Hause, lebten sie in den Trümmern ihrer
Häuser, in den verbliebenen Kellern. Auch bauten sie notdürftige
Wohnungen. Doch die Gefahr für Seuchen war groß. Nicht wenige
Leute litten an einer Diphtherie. Dazu kam die Mangelwirtschaft. Es
gab wenig zu essen. Die Tauschwirtschaft blühte.

Da die schulische Bildung in den Evakuierungsorten unzureichend
war, schuf man spezielle Aufbauschulen, wo man z. B. den Real-
schulabschluss nachholen konnte.

Nachdem im Saarland die Amerikaner abrückten, kamen französische
Truppen z. T. aus verschiedenen Nationen (Frankreich, Marokko, Alge-
rien). Die Algerier blieben oft nach ihrer Entlassung hier, arbeiteten zu-
nächst im Bergbau und machten sich schließlich als Gastwirte selbstän-
dig. Die Franzosen empfand man in der Bevölkerung eher als Besatzer
als Befreier. Denn das Saarland galt seit den napoleonischen Kriegen
als Zankapfel zwischen Deutschland und Frankreich. Als Preis für die
Vereinigung der Westzonen zur Bundesrepublik hatte Frankreich die
Anerkennung des Saargebiets als französisches Protektorat durch die
anderen Westalliierten erreicht.

Die Westmächte wollten zunächst eine Umschichtung der öffentlichen
Verwaltung, bei dem die durch den Nationalsozialismus „Belasteten“
entfernt und ausgeschaltet würden. Diese Aktion verlief letztlich im
Sande. Sie erwies sich als ein falsch angelegtes und daher verfehltes
Unternehmen.

In der Sowjetunion hatte man die verstümmelten Kriegsinvaliden im
Kloster Valaam auf einer Insel isoliert. Man wollte die sowjetische Öf-
fentlichkeit nicht mit Kriegsbeschädigten schocken, die keine Beine
und Arme hatten und mit Prothesen unversorgt blieben. Man wollte
das Bild einer erfolgreichen Roten Armee vermitteln, die in ihren ei-
genen Reihen keine sichtbaren Opfer hatte. In Westdeutschland dage-
gen sah man Kriegsbeschädigte in speziell für sie konstruierten Fahr-
zeugen. Auch waren deren Einschränkungen unübersehbar.

Nach dem Krieg forderten viele Kriegsbeschädigte eine Verbesserung
ihrer Kriegsopferversorgung (Berufsschadensausglich, Ausgleichsrente).
Die Reigen sichtbarer Wahlgeschenke machte dies möglich. Die im letz-
ten Krieg ausgebombten Hausbesitzer forderten einen Lastenausgleich
(eine Entschädigung für den erlittenen Sachschaden). Die Leute fühlten
sich deshalb mehr als Opfer, denn als Täter. In den letzten Jahren hatte
sich allerdings die Stimmung verändert. Heute werden viele Opfer zu Tä-
tern erklärt.

In den letzten Jahren wurde von Spitzenpolitikern beim 8. Mai zunehmend
von einer Befreiung vom Nationalsozialismus gesprochen. Dies erinnert
sehr stark an die früheren Losungen im kommunistischen Machtbereich, in
denen die Befreiung der europäischen Völker von der Versklavung durch
die Sowjetunion propagiert wurde (Georgi Dimitroff, Ausgewählte Schrif-
ten, Band 3, Dietz Verlag, Seite 603). Den Westalliierten kommt zwar
großer Dank beim Wirtschaftsaufbau, bei der Organisierung einer unab-
hängigen Presse und beim Aufbau der Gewerkschaften zu. Doch knüpf-
te man vielfach an die Verhältnisse an, die vor dem Hitlerputsch be-
standen hatten. Auch stand im Vordergrund ein Bundesstaat. Es sollte
keine Machtansammlung in einer Hand geben dürfen.

Bei den Recherchen stützte sich der Autor auf die Doppelbroschüre „Die
Gesellschaft in der Bundesrepublik (Analysen)“ aus den Jahren 1970/71.
Was die Lage der Kriegsbeschädigten in der früheren Sowjetunion angeht,
bezog sich der Autor auf das „Lexikon der russischen Literatur des 20.
Jahrhunderts“ von Wolfgang Kasack.