RICHTIGE IDEEN ODER RICHTIGES DENKEN

AUTOR: Josef Theobald

VORWORT

Heute geht es um das Gesamtwerk von Mao Zedong (1893-1976)
und seiner Zeit. Habe stets darauf hingewiesen, dass man seine
Person differenziert betrachten muss. Als maßgeblicher Politiker
ist er zwar für Menschenopfer in den verschiedenen Zeitperioden
verantwortlich. Es muss aber auch hier sein Wirken als klassischer
chinesischer Gelehrter anerkannt werden. Viele seiner zahlreichen
Schriften hatten Mitautoren, so dass wir deshalb an einigen Stellen
von einem kollektiven Werk sprechen müssen.

In China gibt es das Sprichwort: „Selbst nach seinem Tod wird der
Tausendfüßler nicht steif.“ Dies bedeutet, dass der Einfluss einer
mächtigen Person über sein Grab hinausreicht. [1] Dies wird im
Westen oft vergessen. Im Osten Asiens gehen die Uhren eben
anders.

BEITRAG

Am 20. 05. 1963 wurde die Schrift Mao Zedongs mit dem Titel
„Woher kommen die richtigen Ideen der Menschen?“ erstmals
veröffentlicht. Diese spielte während der Großen Proletarischen
Kulturrevolution keine unwesentliche Rolle. Die „Worte des Vor-
sitzenden Mao Tsetung“ (ab 1968 erschienen) nehmen hierauf
ausführlich Bezug.

Im Jahre 1950 erschienen in der Sowjetunion die ausgewählten
philosophischen Schriften von W. G. Belinski. In den enthaltenen
Rezensionen heißt es auf der Seite 337: „Wo es keine Idee gibt,
gibt es auch keine Wissenschaft! Kenntnis der Tatsachen ist nur
deshalb wertvoll, weil in den Tatsachen Ideen verborgen liegen;
Tatsachen ohne Ideen sind für Kopf und Gedächtnis wie Müll.
Der Blick des Naturforschers, der die Naturerscheinungen be-
obachtet, entdeckt in ihrer Mannigfaltigkeit allgemeine, unver-
änderliche Gesetze, d. h. Ideen. Da er sich von der Idee leiten
lässt, sieht er in der Klassifizierung der Naturerscheinungen
kein künstliches Hilfsmittel für das Gedächtnis, sondern die
Allmählichkeit der Entwicklung von niederen zu höheren Gat-
tungen, er sieht also Bewegung, Leben.“ Weiter heißt es auf
der Seite 337: „Alles Vernünftige hat seinen Ausgangspunkt
und sein Ziel: die Bewegung ist die Äußerung des Lebens,
das Ziel ist der Sinn des Lebens. Im unmittelbaren Leben
der Menschheit beobachten wir ein Streben nach vernünf-
tigem Bewusstsein, ein Streben, das Unmittelbare zugleich
auch bewusst zu machen, denn die Vernunft kommt da zum
vollen Triumpf, wo das Unmittelbare und das bewusste Da-
sein harmonisch miteinander verschmelzen.“ Diese frühere
Gedankenwelt prägte auch Mao Zedong. „Leben ist nur in
Bewegung möglich; Ruhe ist Tod.“ (Seite 347)

Schon im Jahre 1965 erschien die Schrift „Woher kommt das
richtige Denken der Menschen?“ als die erste deutsche Über-
setzung. Doch der Einfluss von Alfred Kurella (1895-1975), der
obiges Werk ins Deutsche übersetzte, war in den Jahren nach
1963, also mit Beginn der einsetzenden Erziehungsbewegung,
außergewöhnlich groß. Der aus Oberschlesien stammende An-
hänger Stalins galt in der früheren DDR als einer der führenden
Schriftsteller und Kulturfunktionäre. Daher ist durchaus denkbar,
dass zumindest sein Umfeld bis in die heiße Phase der Kulturre-
volution in China anwesend war. Wie schon in früheren Beiträgen
angesprochen, wurden seit Beginn der Erziehungsbewegung die
Geschichte der chinesischen Revolution und der „lange Marsch“
glorifiziert. Durch die ideologischen Auseinandersetzungen mit
der KPdSU sah man sich genötigt, in der Öffentlichkeit sich als
die einzig wahre kommunistische Bewegung zu zeigen, die eine
große kommunistische Tradition und den entsprechenden Rück-
halt in der Bevölkerung hatte. Dabei war wenig von Belang, ob
die historischen Schilderungen auch der Wahrheit entsprachen.

In den Siebziger Jahren gab es durch die moderne Informations-
technologie neue wissenschaftliche Horizonte. Immer mehr Leute
befassten sich mit der Kybernetik. Sozialistische Länder, wie die
Sowjetunion, sahen hier ein willkommenes, aber auch ein großes
Hilfsmittel für die staatliche Planung und Lenkung der Wirtschaft.
In der Broschüre „UdSSR – Wissenschaft“ heißt es auf Seite 33:
„Errungenschaften in der Entwicklung der Kybernetik, der Nach-
richtenmittel, der Informationstechnik ermöglichen es, im zehnten
Fünfjahresplan (1976-1980) die Aufgabe der Schaffung eines ge-
samtstaatlichen Systems der Informationserfassung und Informa-
tionsverarbeitung in der Praxis zu lösen.“ (Verlag der Presseagen-
tur NOWOSTI, Moskau -UdSSR- 1977) Auch in der Volksrepublik
China kamen im militärischen Bereich numerisch-kontrollierte und
Präzisionsmaschinen zum Einsatz. Daher spielten diese Maschinen
bei der Modernisierung der Wirtschaft Chinas keine unbedeutende
Rolle. [2] Hier gab es auch Forschungsschwerpunkte in den Berei-
chen der Informationslehre und in der mathematischen Theorie der
Computerwissenschaft. [3]

Aus diesem Grunde erschienen im Jahre 1965 schließlich zwei unter-
schiedliche Fassungen, die eine im Volksverlag (A) und die andere
im Jugendverlag (B). Von der Art der Übersetzung überzeugender
gilt die Fassung mit dem Titel „Woher kommt das richtige Denken
der Menschen?“. Nur die „philosophischen Monographien“ behielten
die in der Kulturrevolution favorisierte Fassung bei.

Der Hintergrund der Schrift „Woher kommen die richtigen Ideen der
Menschen?“ liegt in der Auseinandersetzung Maos mit Liu Shaoqi.
Ihm ging es hier um eine Kritik an dessen angeblichen bürgerlich-
idealistischen und metaphysischen Auffassungen. Liu kontrollierte
nach Ausbruch der Kulturrevolution während seiner Amtszeit als
Vorsitzender des Staates noch vereinzelte Sparten der Literatur
und Kunst. [4]

Beschäftigt man sich mit der chinesischen Sprache, so fällt das
Wort „sixiang“ ein. Als Substantiv hat es in erster Linie die Be-
deutung von „Sinn, Denken“ und in zweiter Linie von „Gedanke,
Idee“. [5]

Im Vergleich dazu liegt mir eine Arbeit aus der früheren DDR vor,
in der es dementsprechend heißt: „Denken ist ein Bewusstseins-
prozess, der Gedanke ist das Resultat eines solchen Prozesses.
In der Sprache der Informationstheorie übersetzt heißt das: Ge-
danken sind Informationen (Informationen einer besonderen Art!),
Denken selbst aber ist ein Prozess der Aufnahme, Umwandlung
und Speicherung von Informationen.“ [6]

Im Jahre 1982 erschien im Carl Hanser Verlag (München-Wien)
das mehrbändige Werk von Professor Helmut Martin (Ruhr-Uni-
versität Bochum) mit dem Titel „Mao Zedong – Texte“. Im Band
V auf der Seite 160 findet man nun die ursprüngliche Fassung
von 1965 mit dem Titel „Woher kommt das richtige Denken der
Menschen?“. Heutige Sinologen greifen deshalb auf diese Aus-
gabe zurück. Doch existieren im deutschsprachigen Raum noch
Kreise, die an der alternativen Übersetzung aus dem Jahre 1965
und später festhalten möchten, weil sie dem damaligen Zeitgeist
entsprach.

Doch ist aus erkenntnistheoretischer und philologischer Sicht der
letzten Übersetzung Vorrang zu geben.

Am 5. April 1976, also im letzten Jahr der Kulturrevolution, kam es
auf dem Pekinger Tiananmen-Platz zu einer Demonstration gegen
die damalige Viererbande. Die meisten Teilnehmer waren Jugend-
liche und gehörten der Gruppe der Rotgardisten an. Sie sprachen
sich für ein selbständiges Denken aus. Sie sahen ein, dass sie die
verlorene Studienzeit wieder wettmachen mussten. Deshalb waren
sie sehr lernbegierig. [7] Sie unterstützten hier Deng Xiaoping, der
zu Lebzeiten von Liu Shaoqi zu dessen engem Führungsstab zähl-
te. Liu bemängelte ebenfalls die Rückständigkeit der Massen.

ANMERKUNGEN
[1] CHINESISCH-DEUTSCHES LEXIKON DER SPRICHWÖRT-
LICHEN REDENSARTEN, Beijing (China) 1981, Seite 7.
[2] Ma Hong, Neue Strategie für Chinas Wirtschaft,
Verlag für fremdsprachige Literatur, Beijing (China)
1985, Seite 55.
[3] China-Buchreihe, BILDUNG UND WISSENSCHAFT, Verlag
für fremdsprachige Literatur, Beijing (China) 1985,
Seite 145.
[4] DOKUMENTE DES IX. PARTEITAGS DER KOMMUNISTI-
SCHEN PARTEI CHINAS, Verlag für fremdsprachige
Literatur, Beijing (China) 1969, Seite 34.
[5] Chinesisch-deutsches Universalwörterbuch,
Herausgeber: W. Fuchsenberger, Vierter Nach-
druck, Verlag für fremdsprachige Literatur,
Beijing (China) 2012, Seite 989.
[6] Georg Klaus, Kybernetik und Erkenntnistheorie,
5. unveränderte Auflage, Berlin-Ost 1972, Seite 206.
[7] China heute – Vom Jugendlichen zum Pensionären,
Herausgeber: Beijing Rundschau, Beijing (China) 1983,
Seite 41.

SCHLUSSWORT

„Die Erfahrung hat bewiesen, dass in einigen sehr wesentlichen
Fragen der proletarischen Revolution alle Länder unvermeidlich
dasselbe werden durchmachen müssen, was Russland durch-
gemacht hat.“ (W. I. Lenin, Werke, Band 31, Seite 15)