DIE ENTWICKLUNG EINER EIGENSTÄNDIGEN DIALEKTIK

AUTOR: Josef Theobald

VORWORT

Bis 1980 erschienen in China im Verlag für fremdsprachige
Literatur verschiedene Einzelwerke sowohl von Karl Marx
und Friedrich Engels als auch von Lenin und Stalin. Einen
Schwerpunkt bildeten die philosophischen Werke Lenins,
die als eine Ergänzung der philosophischen Schriften von
Mao Zedong gelten. In China sah man sich für viele Jahre
in der Tradition des Stalinismus. Aus diesem Grunde sind
auch die entsprechenden Werke als die Antwort auf die in
der Sowjetunion einsetzende revisionistische Entwicklung
zu verstehen. In den Jahren 1972 und 1976 nahmen auch
die philosophischen Spätwerke von F. Engels Eingang in
das Verlagsprogramm.

BEITRAG

Der dialektische Materialismus kennt in der Regel drei
Grundgesetze: die Umwandlung quantitativer Verände-
rungen in qualitative, Einheit und Kampf der Gegensätze
(Identität), Negation der Negation. Mao Zedong hat in den
Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts in Yan’an seine
Vorarbeiten zu seiner Schrift „Über den Widerspruch“ be-
gonnen, die er in den Fünfziger Jahren abgeschlossen hat.
Besonderes Augenmerk verwandte er insbesondere bei der
Herausstellung von Gegensätzen. Dies sollte in den Folge-
jahren der Auslöser vieler Kampagnen und der Kulturrevo-
lution werden.

So schreibt er: „1. Im Entwicklungsprozess der Dinge setzt
jede der beiden Seiten des jeweiligen Widerspruchs die
Existenz des anderen, ihr entgegengesetzten Seite als
Bedingung ihrer eigenen Existenz voraus, wobei beide
Seiten in einer Einheit koexistieren. 2. Jede der beiden
entgegengesetzten Seiten verwandelt sich unter bestim-
mten Bedingungen in ihr Gegenteil. Eben das heißt Iden-
tität.“ (Ausgewählte Werke, Band I, Seite 396)

In seiner späteren Schrift „Über die richtige Behandlung
der Widersprüche im Volke“ wendet er seine Theorie auf
die sozialistische Gesellschaft seiner Zeit an, in einer Zeit,
als der Ungarnaufstand niedergeschlagen wurde und er den
aufkommenden Gulaschkommunismus verurteilte. So ist zu
lesen: „Viele Menschen geben nicht zu, dass es in der sozia-
listischen Gesellschaft noch Widersprüche gibt, was dazu
führt, dass sie angesichts der Widersprüche in der Gesell-
schaft ängstlich und passiv werden;…“ (Ausgewählte Werke,
Band V, Seite 444) Damals ging es vorrangig um die Behand-
lung der Intelligenz und um die Ausrichtung der Literatur und
Kunst, kurz um die Hundert-Blumen-Bewegung. Die zunächst
liberalere Einstellung wurde nach dem Ungarnaufstand erheblich
verschärft, nachdem entsprechende Strömungen auch in China
Fuß fassen sollten. So existieren zwei Fassungen seiner Schrift.

In der Wissenschaftstheorie ist das zweite Grundgesetz auch als
Dualität bekannt, wo inverse und komplementäre Elemente eine
Rolle spielen. Diese treten als Spiegelungen oder Symmetrien auf.
Der deutsche Philosoph Hegel hat sich als erster mit dieser Proble-
matik befasst, bis Lenin nach Vorarbeiten von Marx und Engels in
eigenständiger Arbeit diese Logik für seine materialistische Kritik
anwandte und hieraus einzelne Grundgesetze herleitete. [1] Der
Chinese Mao Zedong hatte allerdings nach seiner ostasiatischen
Sichtweise das dritte Grundgesetz, also das Bestehen einer Nega-
tion der Negation, für die sozialistische Gesellschaft verworfen. So
heißt es: „Die Einheit der Gegensätze ist das elementarste Gesetz,
das Umschlagen quantitativer in qualitative Veränderungen ist die
Einheit des Gegensatzes von Qualität und Quantität. Die Negation
der Negation gibt es überhaupt nicht.“ (Mao Zedong, Texte, Band
V, Seite 355). „Vielmehr besteht das Wesen dieser asiatischen Na-
turkräfte gerade darin, gar keine Tätigkeit zu äußern und keinen Zu-
stand zu fixieren; sie sind also auch eigentlich gar keine Kräfte, son-
dern nur bloße ruhende Namen für die auffallendsten Naturerschei-
nungen, welche sie nicht einmal erklären, geschweige sonst eine Tä-
tigkeit gegeneinander ausüben;…“ [2]

NACHTRAG

Die Spätschrift von F. Engels mit dem Titel „Dialektik der Natur“
wurde in der Sowjetunion erstmals 1925 herausgegeben. Denn
30 Jahre lange lag das Manuskript in den Archiven der deutschen
Sozialdemokratie verborgen. Lenin war diese Schrift bei der Aus-
arbeitung seiner philosophischen Werke nicht bekannt. Dennoch
ist offiziell die obige Schrift in den Kanon der bestehenden philo-
sophischen Werke des Marxismus-Leninismus eingereiht worden.
Die in den Sechziger Jahren herausgegebenen Versionen hatten
sich an der Sonderausgabe von 1935 (40. Todestag von Engels)
und an der russischen Ausgabe von 1941 orientiert.

Wie später Lenin definiert F. Engels unter dem Hintergrund des
dialektischen Materialismus drei Grundgesetze. Außerdem hatte
sich Engels eingehend mit der Identität und mit der Negation der
Negation beschäftigt, die er als Entwicklung in der Pflanzenwelt
auffasst. Hier der Hinweis auf „Anti-Dühring“. [3] An dieser Stelle
sehen wir vor allem europäische Vorstellungen von den einzelnen
Naturerscheinungen. Abweichend davon gab es traditionelle Vor-
stellungen im ostasiatischen Raum. In der Ära von Deng Xiaoping
wurde diese alte Sichtweise erneut betont, die insbesondere der
Identität, der Einheit und dem Kampf der Gegensätze, einen grö-
ßeren Platz einräumte. Hier stand man schon von Anbeginn in
Opposition zu Stalin, der den Dualismus ablehnte, aber ein ein-
heitliches und unteilbares gesellschaftliches Leben, ausgeprägt
in zwei verschiedenen Formen, der ideellen und der materiellen
Form, propagierte. [4]

ANMERKUNGEN
[1] W. I. Lenin, Werke, Band 38: Philosophische Hefte,
hier vor allem: „Konspekt zu Hegels 'Wissenschaft der
Logik'“, Dietz Verlag, Berlin-Ost 1968. / W. I. Lenin,
"Materialismus und Empiriokritizismus", Bücherei des
Marxismus-Leninismus, Band 6, 7. Auflage, Dietz Verlag,
Berlin-Ost 1964.
[2] ZEITSCHRIFT FÜR DIE WISSENSCHAFT DES JUDENTUMS,
Redakteur: L. Zunz, 3. Heft, Berlin 1823, Nachdruck
bei Olms Verlag, Hildesheim – New York 1976, Seiten
408 + 409.
[3] Marx – Engels, Werke, Band 20, Dietz Verlag, Berlin-
Ost 1975, die Seiten XXII, 650, 348, 483, 490 + 131.
[4] J. W. Stalin, Werke, Band 1, Dietz Verlag, Berlin-Ost
1950, die Seiten 333/34.

ERGÄNZUNG

Im Deutsch-Chinesischen Handwörterbuch, das 1979 in der Volks-
republik China erschienen ist, heißt es auf der Seite 269: „das Ge-
setz von der Einheit der Gegensätze ist das grundlegende Gesetz
des Universums“.