BEGINN UND ENDE DES PRAGER FRÜHLINGS

AUTOR: Josef Theobald

Nach der Befreiung Osteuropas vom Hitlerfaschismus durch die Rote Armee
und nach der Ausweitung des Einflussgebietes bis zur Elbe entstand für J. W.
Stalin ein Problem. In den eroberten Ländern war der Einfluss der Sozialdemo-
kratie relativ sehr stark. Deshalb war der erste Gedanke, dass die Kommunisten
und die Sozialdemokraten zu einer Einheitspartei verschmelzen sollen. Denn es
sei unmöglich, dem Kapitalismus ein Ende zu bereiten, ohne dem Sozialdemokra-
tismus in der Arbeiterbewegung ein Ende bereitet zu haben. [1]

In der Tschechoslowakei bewahrte die Kleinbourgeoisie, die einen bedeutenden
Teil der Stadt- und Landbevölkerung darstellte, immer einen alten, engen Natio-
nalismus. Sie neigte stets dazu, sich von einem opportunistischen und demago-
gischen Reformismus der Sozialdemokraten verführen zu lassen.

Zur Zeit des Prager Frühlings wurden folgende Forderungen aufgestellt:
– Schaffung eines neuen sozialistischen Modells, eines Sozialismus „mit mensch-
lichem Antlitz“,
– Neutralität der Tschechoslowakei in außenpolitischen Fragen,
– Revision des Warschauer Vertrages.

Auf die Medien hatte damals die „Literarny Listy“, um die sich eine neue Klasse
der intellektuellen Elite gruppierte, großen Einfluss, die zu einem Forum für die
obigen Forderungen wurden (Manifest der 2000 Worte). [2]

Diese inakzeptablen Forderungen riefen die Sowjetunion auf den Plan. Sehr
populär ist im Westen die Breschnew-Doktrin, die besagt, dass es nur eine
beschränkte Souveränität sozialistischer Staaten gäbe und dass die Sowjet-
union das Recht habe, dann einzugreifen, wenn in einem dieser Staaten der
Sozialismus bedroht würde. Dabei gäbe es eine Verknüpfung von Antisowje-
tismus und Antisozialismus. Aus chinesischer Sicht gab es diese Auffassung:
Unterwirft man sich jener Doktrin nicht, übe die Sowjetunion eine „internatio-
nale Diktatur“ aus, d. h. eine Diktatur gegen die Völker anderer Länder, um
eine „sozialistische Gemeinschaft“ unter der Herrschaft des neuen Zarenrei-
ches, nämlich Kolonien des Sozialimperialismus zu bilden. [3]

In der Volksrepublik China kam zu dieser Zeit der Begriff des Sozialimperialis-
mus auf. Im Verweis auf Lenin verstand man darunter den Sozialismus in Wor-
ten und Imperialismus in der Tat, das „Hinüberwachsen des Opportunismus in
den Imperialismus“. [4] Der Hintergrund lag in der Zeit des I. Weltkrieges, als
zunehmend sozialistische Parteien in bürgerliche Regierungen eintraten. Ob-
wohl sie in den Kongressen der II. Sozialistischen Internationale stets ihre Ein-
stellung zum Frieden beteuerten, stimmten sie in ihren Ländern den jeweiligen
Rüstungsetats, die ständig anwuchsen, zu. Deshalb waren diese Parteien bei
Lenin als Renegaten verschrien. [3]

In der Nacht des 21. August 1968 entsandte die Sowjetunion Flugzeuge, Pan-
zer und Bodentruppen in großer Zahl zu einem Überraschungsangriff zur mili-
tärischen Okkupation der Tschechoslowakei. Offiziell hieß es, die Truppen sei-
en „zum Schutz“ „der sozialistischen Errungenschaften“ in die Tschechoslowa-
kei entsandt worden. Weitere Gründe wurden genannt: „aus der Besorgnis um
die Stärkung des Friedens heraus“ und „zum Schutz der Basis des Friedens in
Europa“. [5]

Es muss hier allerdings gesagt werden, dass Rumänien sich weigerte, sich den
Sowjettruppen anzuschließen und der DDR verboten wurde, seine Truppen zu
entsenden, um ein zweites München 1938 auszuschließen.

Die Gegenwehr der Bevölkerung war angesichts der militärischen Übermacht
der Truppen des Warschauer Vertrages aussichtslos. Insgesamt starben bei
der Besetzung 50 Menschen. Einem Aufruf der Regierung folgend, verlegte
sich die Bevölkerung auf einen passiven Widerstand. [6]

Am 22. August 1968, während des Einmarsches der Truppen des Warschauer
Vertrages, wurden diese Forderungen formuliert:
– Proklamation des Bruchs mit der KPdSU und den Bruderparteien,
– Gewährung des Rechts des Ausschlusses dieser Parteien aus der internatio-
nalen kommunistischen Bewegung,
– Aufkündigung aller revolutionärer Traditionen und die Ablehnung ihrer marxi-
stisch-leninistischen Prinzipien,
– Verwandlung der KPC in eine nationalistische und antisowjetische Partei.
[2]

Am 26. August 1968 müssen die nach Moskau verschleppten Mitglieder der
Regierung einem „Kompromiss“ zustimmen. Alle die seit April beschlossenen
Reformen, die den Aufbau einer „sozialistischen Demokratie“ zum Ziel hatten,
wurden als Gegenleistung für einen schrittweisen Abzug der Besatzungstrup-
pen wieder aufgehoben. [6]

Am 31. August 1968 stimmt das Zentralkomitee (ZK) der KPC dem Moskauer
Protokoll endgültig zu. Der als eher schwankend charakterisierte Alexander
Dubcek muss zurücktreten. Ludvik Svoboda und Gustav Husak werden in
das Präsidium des ZK der KPC gewählt. [2]

Diese Ereignisse in Prag 1968 hatten in der kommunistischen Weltbewegung
weitgehende Konsequenzen. Denn sie spaltete sich in zwei Gruppen: in die
erste Gruppe, die weiterhin der Politik der KPdSU und seiner Bruderparteien
folgte, und in die zweite Gruppe, die sich ganz konsequent abwendete und
dem Beispiel der KP Chinas und der Partei der Arbeit Albaniens nacheiferte.

Alles in Allem hatte sich die Tschechoslowakei ihren Nationalismus bewahrt
und sich stets weltoffen gezeigt. So unterschied man sich besonders von der
früheren DDR, die nicht nur eine natürliche, sondern auch eine Mauer in den
Köpfen errichtete, die heute vielfach noch besteht.

ANMERKUNGEN
[1] J. W. Stalin, Werke, Band 10, Dietz Verlag, Berlin-Ost 1953, Seite 216.
[2] Robert-Jean Longuet, IM HERZEN EUROPAS…Prager „Frühling“ oder 
Prager „Herbst“, Coopérative Ouvrière de Presse et d’ Editions. Luxemburg 
1979, die Seiten 19/20, 23, 69, 78, 90/91 + 96.
[3] Dokumente des IX. Parteitages der Kommunistischen Partei Chinas, 
Verlag für fremdsprachige Literatur, Beijing (China) 1969, die Seiten 101/2.
[4] W. I. Lenin, Werke, Band 29, Dietz Verlag, Berlin-Ost 1961, Seite 493.
[5] Totaler Bankrott des sowjetischen modernen Revisionismus, Verlag für
fremdsprachige Literatur, Beijing (China) 1968, die Seiten 23, 27/28.
[6] Die große Chronik WELTGESCHICHTE, Band 18: Vom Kalten Krieg zur 
Koexistenz (1961-1973), Wissen Media Verlag, Gütersloh/ München 2008, 
die Seite 229.

NACHTRAG

Robert-Jean Longuet (1901-1987) war ein französischer Rechtsanwalt und
ein Journalist. Auch war er ein Urenkel von Karl Marx (1818-1883). Die An-
hänger des französischen Sozialreformisten Longuet vertraten zentristische
Anschauungen. Nach W. I. Lenin (1870-1924) waren die Zentristen die Leute
der Routine, zerfressen von der faulen Legalität, korrumpiert durch die Atmo-
sphäre des Parlamentarismus usw., Beamte, gewöhnt an warme Pöstchen
und an „ruhige“ Arbeit. In seinen Augen waren diese eine Erscheinung des
Übergangs von der Periode der Arbeiterbewegung (1871 bis 1914) bis zu
einer neuen Periode der Ära der sozialen Revolution (ab 1917). Während
des ersten Weltkriegs vertraten die Longuetisten einen sozialpazifistischen
Standpunkt. Gegenüber der Oktoberrevolution in Russland blieben sie in
Wirklichkeit feindlich gesinnt. Auf dem Parteitag der Sozialistischen Partei
Frankreichs (Dezember 1920) in Tours bildeten sie allerdings eine Minder-
heit („Minoritaires“). (W. I. Lenin, Werke, Band 24, die Seiten 62 + 591)