DIE TRADITIONELLE HEIMARBEIT IN UNSERER REGION

AUTOR: Josef Theobald

Wie früher schon einmal festgestellt wurde, sind die Heimarbeit oder die
Hausindustrie Überreste des Übergangs der bäuerlichen Wirtschaft zur
Manufaktur.
 

Neben der selbständigen Handwerksarbeit, die sich in der Manufaktur-
produktion weiter fortsetzte, gab es schon erste Ansätze einer Steige-
rung durch die maschinelle Industrie. Als das Vorbild für eine parallele
Sonderform galt hier das Verlagssystem. wie in den anderen Regionen
Deutschlands (die Handels- und Gewerbezentren Sachsens, des Rhein-
landes oder der Augsburger Gegend). Die Verleger selbst kamen entwe-
der aus den Reihen ehemaliger Kaufleute oder waren Teil wohlhabender
Kaufmannsfamilien mit der Tradition im Groß- und Fernhandel. Nebenbei
mischten auch ehemalige Handwerker und manchmal auch die Mitglieder
der lokalen Beamtenbürokratie mit. Diese waren im Vertrieb relativ homo-
gener Güter, wie Tuche, Bänder, Uhren, Nadeln, Messer usw. tätig. Für
diese Art der Produktion typisch war hier das Fehlen des bei einem Groß-
betrieb vorhandenen großen Fixkapitals. Jenes beschriebene System ver-
wandelte allerdings selbständige Handwerker in häufig scharf ausgebeutete
Teilarbeiter. Denn durch fortschreitende Teilung der Arbeit erhöhte sich auch
die Produktivität. Die Werkzeuge und ebenso das nötige Arbeitsmaterial stell-
ten die Verleger. Die dabei eingesetzten Werkzeuge wurden infolge ständiger
Produktionskontrollen in den Häusern der Heimarbeiter einer kontinuierlichen
Verbesserung unterworfen. [1]

Im 19. Jahrhundert bildete die ländliche Hausindustrie, betrieben im Verein
mit Gartenbau oder kleiner Ackerindustrie, die breite Grundlage der jungen
Großindustrie Deutschlands. Im Westen Deutschlands sind die Arbeiter vor-
wiegend Eigentümer ihrer Heimstätten. Diese Verbindung der Hausindustrie
mit Garten- und Feldbau, und daher mit gesicherter Wohnung, finden wir ja
nicht nur überall, wo Handweberei noch ankämpft gegen den mechanischen
Webstuhl: am Niederrhein und in Westfalen, im sächsischen Erzgebirge und
in Schlesien. Wir finden sie überall, wo Hausindustrie irgendeiner Art sich als
ländliches Gewerbe eingedrängt hat, z. B. im Thüringer Wald und in der Rhön.
Infolge der Tabakmonopol-Verhandlungen stellte sich heraus, wie sehr auch
schon die manuelle Zigarrenfabrikation (Zigarrenmacherei) als Form der länd-
lichen Hausarbeit betrieben wird. Wo irgendein Notstand unter den Kleinbauern
eintritt, wie in dem Jahre 1882 in der Eifel, da erhob die bürgerliche Presse so-
fort den Ruf nach Einführung einer passenden Hausindustrie als dem einzigen
Hilfsmittel. Die Eifelregion ist eine hügelige Landschaft mit großen Torfmooren
und ausgedehntem Ödland. Die Bodenverhältnisse sind für die Landwirtschaft
weniger geeignet. Der vorhandene Boden wurde von kleinen, technisch rück-
ständigen Bauernwirtschaften bearbeitet. Es kam regelmäßig zu periodischen
Missernten, die die Kleinbauern in große Not stürzten. In dem oben genannten
Zeitpunkt gab es erneut mehrere Missernten und durch das Fallen der Preise
für landwirtschaftliche Erzeugnisse kam es zu einer Hungersnot unter den Be-
wohnern.
 

So drängt die wachsende Notlage der deutschen Parzellenbauern wie die all-
gemeine Lage der deutschen Industrie zu einer immer weiteren Ausdehnung
der ländlichen Hausindustrie. Es wurde dies eine Erscheinung, die Deutsch-
land eigentümlich war. Im benachbarten Frankreich fand man ähnliche Ver-
hältnisse nur ganz selten. Sie bildeten hier eine Ausnahme. [2]

NACHTRAG

Durch die Weltausstellung 1884 in New Orleans (USA) wurden deutsche
Waren auf dem Weltmarkt bekannt. Zum Schutz der englischen Industrie
erließ man 1887 den „Merchandise Marks Act“, das die heimische Industrie
vor unliebsamer Konkurrenz schützen sollte. Die Folge war allerdings, dass
die inländischen Käufer nun die wirklichen Bezugsquellen der Importeure er-
fuhren. So wurden die Waren „Made in Germany“ plötzlich wegen ihrer guten
Verarbeitung weltweit bekannt und gewannen auch einen erheblich größeren
Absatz. [3]

Doch wurden diese Produkte meist im Rahmen hausindustrieller Strukturen
produziert. Hier waren die gezahlten Löhne relativ niedrig. Aber die Arbeiter
mussten hier jeden Akkordlohn hinnehmen, weil sie sonst nichts erhielten
und auch nicht allein vom Produkt ihres Landbaus leben konnten. Weiterhin
waren sie wegen des betriebenen Landbaus und dem damit verbundenen
Grundbesitz an ihren Wohnort gefesselt und hinderte sie daher daran, sich
nach einer anderen Beschäftigung umzusehen. Und hierin lag der Grund,
warum Deutschland in einer ganzen Reihe von kleinen Artikeln auf dem
Weltmarkt konkurrenzfähig wurde. Durch einen niedrigen Arbeitslohn er-
zielte man eine höhere Gewinnspanne, die bei einer Überproduktion den
ausländischen Käufer fast gar nicht belastete.

Dies hatte eine Auswirkung auf die Löhne der städtischen und auch groß-
städtischen Arbeiter. So war in der Praxis der Preis der Arbeit unter den
Wert der Arbeitskraft gefallen. In den Städten hatte auch die schlechte
Bezahlung in der Hausindustrie das alte Handwerk verdrängt und das
allgemeine Lohnniveau abgesenkt.

Dies hatte zur Folge, dass die von diesen Verhältnissen profitierende
Groß- und Kleinbürgerschaft von der ländlichen Industrie und von den
hausbesitzenden Arbeitern schwärmte und bei ländlichen Notständen
in der Einführung der Hausindustrie das einzige Heilmittel sah.

So wurde die Hausindustrie die breite Grundlage des deutschen Aus-
fuhrhandels und damit der ganzen Großindustrie.

Vor allem hatte darunter der Kleinbauer zu leiden, der in der jüngeren
Vergangenheit das Opfer einer Zerstörung der alten Marktverfassung
und des Flurzwanges wurde. Da er dabei zusätzlich dem Kreditwucher
anheimgefallen war, wurde er der modernen Hausindustrie gewaltsam
zugetrieben. Denn die Hypothekenzinsen konnten meist nur aus dem
Arbeitslohn der industriellen Bauern bestritten werden und nicht aus
dem Bodenertrag. Mit der Ausdehnung der Hausindustrie wurde eine
Bauerngegend nach und nach in die industrielle Bewegung der Gegen-
wart hineingerissen. Es war diese Revolutionierung der Landdistrikte,
durch die sich die industrielle Revolution in Deutschland über ein weit
größeres Gebiet ausbreitete als in England und Frankreich. Die verhält-
nismäßig niedrige Stufe unserer Industrie war also der eigentliche Aus-
löser, die ihre Ausdehnung in die Breite umso nötiger machte.

Dies begünstigte in Deutschland die revolutionäre Arbeiterbewegung. In
Deutschland wurden im Gegensatz zu Frankreich zuerst die Bezirke der
großen Industrie, die Manufakturen und die Hausindustrie erobert; die
Hauptstadt Berlin kam erst zu einem späteren Zeitpunkt an die Reihe.

Daraus entwickelte sich die Situation, dass die ländliche Hausindustrie
und die Manufaktur in ihrer Ausdehnung zum entscheidenden Produk-
tionszweig in Deutschland wurden. Damit wurde das deutsche Bauern-
wesen mehr und mehr revolutioniert und ist selbst nur zu einer Vorstufe
einer weiteren Umwälzung geworden. [4]      

ANMERKUNGEN
[1] Jürgen Kocka, Unternehmer in der deutschen Industrialisierung,
     Kleine Vandenhoeck-Reihe, Göttingen 1975, Seiten 20 – 22.
[2] Marx – Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Band I,
     Dietz Verlag, Berlin-Ost 1966, die Seiten 520 und 690.
[3] Gerhard Köhnen, Kleine Wirtschaftsgeschichte, Winklers Verlag,
     Darmstadt 1972, Seite 117.
[4] wie [2], jedoch die Seiten 522 – 524.