DIE DEUTSCHE WIEDERVEREINIGUNG

AUTOR: Josef Theobald

Unter Erich Honecker (1912-1994) hatte sich die frühere DDR stark verändert.
Löhne und Renten wurden erhöht und auch der Wohnungsbau wurde forciert.
Die Kehrseite der Medaille war allerdings, dass hier die entsprechenden volks-
wirtschaftlichen Kapazitäten fehlten. Zudem verschlangen die Verwaltung und
der aufgeblähte Sicherheits- und Kontrollapparat Unsummen.

Durch die wirtschaftlichen Probleme in der Sowjetunion wurden mit der Zeit die
ökonomischen Bedingungen in der DDR verschärft. Die Erdöllieferungen aus
der Sowjetunion wurden teurer und die eingeführten Steinkohlenmengen sind
stark eingeschränkt worden. Allein die ineffiziente Braunkohle war verfügbar.

Angeregt durch die Vorgänge in der Sowjetunion bildeten sich in der DDR diverse
Gruppen, die mehr Freiheit und Aufklärung über die DDR-Verhältnisse forderten.
Michael Gorbatschow hatte in der Sowjetunion versucht, die sowjetische Wirtschaft
umzugestalten (Perestroika). Denn ein Kennzeichen der Sowjetwirtschaft war die
starke Bürokratisierung, die in der Praxis einen erfolgreichen Ausbau verhinderte.

Als Absolvent der Moskauer Funkuniversität bekam ich aus Moskau die Zeitschrift
„Sozialismus: Theorie und Praxis“, die sich eingehend mit dem Sozialismus in der
Sowjetunion befasste. Gorbatschow wollte den sozialistischen Wettbewerb wieder
ankurbeln. Sehr populär war damals Lenins Schrift „Wie soll man den Wettbewerb
organisieren?“. Gefragt war wieder die Arbeit des Organisators. "Ihm war aufgege-
geben zu begreifen, dass es auf die Praxis ankommt, dass gerade jener geschicht-
liche Augenblick eingetreten ist, wo die Theorie in die Praxis umgesetzt wird, durch
die Praxis belebt, durch die Praxis korrigiert, durch die Praxis erprobt wird,…“ (Aus-
gewählte Werke in drei Bänden, Band II, Seite 592) Doch der bürokratische Apparat
in der Sowjetunion war nicht mehr zu reformieren.

Zu den Feiern des 40. Jahrestages der Gründung der DDR besuchte Gorbatschow
selbst die DDR. Er warnte Honecker davor, die Signale zu übersehen. Auf ihn geht
der Spruch zurück: „Wer zu spät kommt, bestraft das Leben.“ Dieser wird zum Leit-
spruch der Wendehälse nach der Wiedervereinigung.

Am 9. Oktober 1989 war das Ende der DDR erkennbar. In Leipzig zogen mehr als
70.000 Menschen friedlich über den Innenstadt-Ring und skandierten: „Wir sind das
Volk!“ Die schwerbewaffneten Sicherheitsorgane mussten angesichts der schieren
Masse der Demonstranten kapitulieren und sich schließlich zurückziehen.

Am 18. Oktober 1989 war Erich Honecker zum Rücktritt gezwungen worden. Egon
Krenz kündigte in einer Fernsehrede eine „Wende“ an, mit der die SED wieder das
Geschehen in der Tagespolitik der DDR bestimmten wollte. So ging man erste Re-
formen an, wie die Schaffung von Reiseerleichterungen für Westberlin. Die zweite
Entscheidung war die Öffnung der Berliner Mauer. Nach weiteren Reformen, die
eine führende Rolle der SED in der DDR durch eine Verfassungsreform verneinte,
kam es in der SED zur Selbstauflösung der vorhergehenden Gremien. Nach der
Neuwahl der Volkskammer am 6. Mai 1990 kam es zu einem starken Block neuer
konservativer demokratischer Parteien, der sich „Allianz für Deutschland“ nannte.
Somit war die alte SED-Herrschaft endgültig gebrochen. Die Nachfolgepartei PDS
errang dennoch 16 Prozent. Bis zur Wiedervereinigung im Oktober war der CDU-
Spitzenkandidat Lothar de Maiziere Chef einer Regierungskoalition von Allianz
für Deutschland, Liberalen und SPD.

Unter Federführung von Bundeskanzler Helmut Kohl begannen die Verhandlungen
für eine deutsche Wiedervereinigung. Grundlage war ein von ihm erstelltes Zehn-
Punkte-Programm, das er am 28. November 1989 dem deutschen Bundestag vor-
legte. Ein Ziel war die Schaffung konföderativer Strukturen zwischen beiden deut-
schen Staaten. Am Ende des langen Weges sollte ein gesamtdeutscher Bundes-
staat entstehen.

Dies alles konnte allerdings nur verwirklicht werden, wenn ein Friedensvertrag mit
den ehemaligen Siegermächten des II. Weltkriegs unterzeichnet war. Deshalb gab
es zunächst in den entsprechenden Hauptstädten Bedenken gegen eine Wiederver-
einigung. Besonders in Großbritannien und Frankreich war die Besorgnis groß, dass
nunmehr ein mächtiges Deutschland entstehen könnte. Nachdem aber Gorbatschow
am 10. Februar 1990 in Moskau grünes Licht gab, indem er eine Entscheidung der
Deutschen respektieren würde, in Zukunft in einem Staat zu leben, kamen die diplo-
matischen Bemühungen wieder in Bewegung. Denn man erkannte, dass eine Ver-
hinderungsstrategie riskanter sei als die Beteiligung an der Gestaltung des Unver-
meidlichen. Nachdem Kohl bezüglich der europäischen Integration weitgehende
Konzessionen machte, blieben keine Hürden mehr bestehen. Die so genannten
Zwei-plus-Vier-Gespräche von NATO und Warschauer Pakt mit beiden Teilen
Deutschlands brachten hier am 12. September 1990 den Durchbruch.

Nach der Vereinbarung einer Währungsunion am 18. Mai 1990 und der Unter-
zeichnung des Einigungsvertrages am 20. September 1990 waren die Grund-
lagen geschaffen zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990.
(BROCKHAUS, Weltgeschichte seit der Aufklärung, Seiten 453 – 456)