DIE TRADITION DES STROHSTUHLFLECHTENS IN RODEN

AUTOR: Josef Theobald

Erstmals berichtete der Heimatforscher Erich Hewer aus
Roden über das Handwerk des Strohstuhlflechtens, das
dort überwiegend in der Winterstraße, Neu- und Altstraße
und ebenfalls in der Mühlenstraße ausgeübt wurde. Dies
war vorwiegend die Arbeit von Frauen. Freitags wurden
die fertigen Stühle dann abgeliefert. Dies war auch der
Zahltag, an dem ein Mann mit einem Karren erschien,
um die Stühle mit einer fertig geflochtenen Sitzfläche
abzuholen.

Die fleißigen Strohstuhlflechterinnen erhielten als Roh-
produkt gebeizte Stühle, Die Lackierung erfolgte erst
nach dem fertigen Flechten der Sitze. Vor 1925 wurde
das Flechten der Stuhlsitze in Heimarbeit für die Stuhl-
fabrik in Fraulautern betrieben. Doch mit den auf einmal
in Mode kommenden Buchenholzstühlen mit den hoch-
gepressten glatten oder mit Ornamenten versehenen
Sitzen starb diese alte Tradition aus. Die Kundschaft
favorisierte plötzlich stabile Sitzflächen, auf die man
weiche Kissen legen konnte. [1]

Wie war aber dieser Produktionszweig organisiert?

Neben der selbständigen Handwerksarbeit, die sich
in der Manufakturproduktion weiter fortsetzte, gab
es schon erste Ansätze einer Steigerung durch die
maschinelle Industrie. Als Vorbild für eine parallele
Sonderform galt hier das Verlagssystem. wie in den
anderen Regionen Deutschlands (die Handels- und
Gewerbezentren Sachsens, des Rheinlandes oder
der Augsburger Gegend). Die Verleger selbst kamen
entweder aus den Reihen ehemaliger Kaufleute oder
waren Teil wohlhabender Kaufmannsfamilien mit der
Tradition im Groß- und Fernhandel. Nebenbei mischten
auch ehemalige Handwerker und manchmal auch die
Mitglieder der Beamtenbürokratie mit. Diese waren im
Vertrieb relativ homogener Güter, wie Tuche, Bänder,
Uhren, Nadeln, Messer usw. tätig. Für dieses Produk-
tionssystem typisch war hier das Fehlen des bei einem
Großbetrieb vorhandenen großen Fixkapitals. Jenes be-
schriebene System verwandelte allerdings selbständige
Handwerker in häufig scharf ausgebeutete Teilarbeiter.
Denn durch fortschreitende Teilung der Arbeit erhöhte
sich auch die Produktivität. Die Werkzeuge und eben-
so das nötige Arbeitsmaterial stellten die Verleger. Die
dabei eingesetzten Werkzeuge wurden infolge ständiger
Produktionskontrollen in den Häusern der Heimarbeiter
einer kontinuierlichen Verbesserung unterworfen. [2]
Die Heimarbeit oder die Hausindustrie sind Überreste des
Übergangs der bäuerlichen Wirtschaft zur Manufaktur. Vor
allem der Zeitraum zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert
brachte eine weite Verbreitung der ländlichen oder Proto-
Industrie. In dieser Epoche ist z. B. die Textilarbeit zu einer
zusätzlichen Einkommensquelle für bäuerliche Familien ge-
worden. Gewöhnlich lag die zentrale Werkstatt des Handels-
unternehmers in der Stadt oder nicht weit entfernt davon und
bildete dort die kommerzielle Basis des gesamten Heimarbeits-
systems, das weit über das Land verstreut war.

Oft gab es ein Interesse, eine ländliche Hausindustrie in den
Gebieten zu organisieren, wo die Landwirtschaft ärmlich war,
wie etwa in den Berggegenden (z. B. Eifel). Infolge der Erb-
teilungen besaß die ländliche Bevölkerung sehr wenig oder
gar kein Land und musste deshalb Möglichkeiten suchen,
ihr Einkommen aufzubessern oder sich dem Heimgewerbe
zuzuwenden. Ein anderer Faktor war die hohe Bevölkerungs-
dichte, somit die Zahl der Arbeitskräfte relativ groß war und
die Löhne entsprechend niedrig.

Der Niedergang der Arbeitsproduktivität und des landwirt-
schaftlichen Pro-Kopf-Einkommens war der Hauptgrund
für die Suche der bäuerlichen Familien nach alternativen
Tätigkeiten. Diese Formen ländlicher Hausindustrie waren
in einigen Gebieten weiter verbreitet als in anderen. Diese
Gebiete mit ländlichem Gewerbe waren in den folgenden
deutschen Regionen zu finden: im Rheinland, in Westfalen,
in Sachsen und in Schlesien sowie im Osten Polens und in
Russland. [3]

Im Russland des 19. Jahrhunderts gab es eine Produktion
von Holzlöffeln in Heimarbeit. So gab es Dörfer, die auf das
Abdrechseln oder auf das Lackieren der Löffel spezialisiert
waren. Bei diesen Produktionsverhältnissen konnte man nur
das unbedingt Notwendige verdienen. Durch die gegebenen
Arbeitsbedingungen war eine Trennung von Wohn- und Ar-
beitsraum fast unmöglich. So kam es in den Wohnungen zu
sanitären Missständen mit der Folge, dass nicht selten Berufs-
krankheiten auftraten. Weiterhin waren Formen von Kinderar-
beit ab dem 5. Lebensjahr zu beobachten. In der Arbeitspraxis
bediente man sich den Mittelspersonen, die zum Teil in einer
hierarchischen Stufe das zu bearbeitende Material en gros ü-
bernahmen und dann im Kleinen vergaben. [4] Auch im ost-
europäischen Russland war die Hausarbeit Anhängsel der
Fabrik. In der täglichen Arbeitspraxis bedeutete dies eine
stärkere Konzentration der Produktion und des Kapitals
sowie eine entwickeltere Arbeitsteilung und stellte folglich
dem Entwicklungsgrad nach eine wesentlich höhere Form
des Kapitalismus dar. [5]

Strohstühle, waren (2) Stühle, deren Sitz aus einem Rahmen
und darüber geflochtenem Stroh bestand. [Pierer’s Universal-
Lexikon (1857-1865), Stichwort: Strohstühle, Bd. 16, S. 933]
Berufe, wie das Tischlerhandwerk, profitierten vor allem in der
Gründerzeit, und zwar in den Jahren nach dem Deutsch-Fran-
zösischen Krieg (1870/71), von der gegebenen Situation, dass
vor Ort keine überlegene Industriekonkurrenz vorhanden war.
Hinzu kamen das Bevölkerungswachstum und der Bauboom
in den betreffenden Jahren. [6]

Wir wissen heute allerdings, dass nur wenige ländliche Unter-
nehmer die eigentliche Industrialisierung finanzierten (diese
kamen meistens aus der Stadt); die Arbeitskräfte vom Land
gingen nur selten zur Arbeit in die Fabriken, das Heiratsalter
war in der Proto-Industrie nicht anders als in der traditionellen
landwirtschaftlichen Welt, und es fehlte hier außerdem eine
enge Verbindung zwischen der Proto-Industrie und dem Be-
völkerungswachstum. Es war aber nicht ungewöhnlich, dass
die Familien in Gebieten mit traditioneller Landwirtschaft doch
schneller wuchsen als dort, wo es lediglich eine Proto-Industrie
gab. [7]

In der Zeit der Massenarbeitslosigkeit nach dem I. Weltkrieg
verlagerte sich die Produktion von Strohstühlen nach Frank-
reich, Dort verwendete man zum Flechten das Peddigrohr,
eine Rohrart, die man aus Spanien importierte. Die Kosten
für die Beschaffung dieses Arbeitsmaterials wurden aber
vom Arbeitslohn der Strohstuhlflechter einbehalten. Da-
durch waren die Produktionsbedingungen in Frankreich
günstiger und das neu eingesetzte Peddigrohr entsprach
der damaligen Mode.


ANMERKUNG
[1] Geschichte der Kreisstadt Saarlouis, Band 6: Roden,
Autor: Marc Finkenberg, Herausgeber: Kreisstadt Saarlouis
(1997), Seiten 157 + 158.
[2] Jürgen Kocka, Unternehmer in der deutschen Industrial-
isierung
, Kleine Vandenhoeck-Reihe, Göttingen 1975, Seiten

20 – 22.
[3] Paolo Malanima, Europäische Wirtschaftsgeschichte (10.-19.
Jahrhundert), Böhlau Verlag, Wien 2010, Seiten 248, 281/2.
[4] W. I. Lenin, Werke, Band 3: Die Entwicklung des Kapitalis-
mus in Russland, Dietz Verlag, Berlin-Ost 1956, Seiten 395, 408
+ 452/3.
[5] W. I. Lenin, Werke, Band 2, Dietz Verlag, Berlin-Ost 1961,
die Seite 368.
[6] Österreichische Geschichte, ÖKONOMIE UND POLITK, Autor:
Roman Sandgruber, erschienen im Verlag Carl Ueberrreuter,
Wien 1995, Seite 256.
[7] wie [3], jedoch die Seite 283.