WAS BEDEUTET DER BEGRIFF „SOZIALIMPERIALISMUS“?

Angesichts des 50. Jahrestages der Niederschlagung des Prager
Frühlings im August 2018 ein Beitrag passend zu diesem Anlass.

AUTOR: Josef Theobald

In einer Schrift W. I. Lenins von 1916 war zunächst genannt der Personenkreis
der „Sozialimperialisten“, die als Sozialisten in Worten und Imperialisten in der
Tat gekennzeichnet wurden. Sie gehen auf die Fabianer-Sozialisten in England
zurück, die sich ab 1884 aus der Fabian-Society herausgebildet hatten.

Zunächst standen die deutschen Sozialdemokraten im Verdacht, Sozialimperia-
listen zu sein. Später wurden andere sozialistische Parteien dazugerechnet.

Durch die politischen Vorgänge in England stand auch Ramsay MacDonald
(1866-1937) im Verdacht, ein Anhänger des „Fabianer-Sozialismus“ oder des
„Sozialimperialismus“ zu sein. 1919 erweiterte W. I. Lenin die Definition mit
den Worten „Hinüberwachsen des Opportunismus in den Imperialismus“. [1]

Der historische Hintergrund lag in der Zeit des I. Weltkrieges, als zunehmend
sozialistische Parteien in bürgerliche Regierungen eintraten. Obwohl sie in den
Kongressen der II. Sozialistischen Internationale stets ihre Einstellung zum Frie-
den beteuerten, stimmten sie in ihren Ländern den jeweiligen Rüstungsetats, die
ständig anwuchsen, zu.

Weiterhin bestimmend war die Ablenkung von den mit fortschreitender Industria-
lisierung entstehenden inneren Spannungen und Klassengegensätze nach aus-
sen. Darunter fasst man die tendierte oder tatsächlich vollzogene Bindung brei-
ter Volksschichten, besonders auch der Arbeiterschaft, an die bestehende poli-
tische und gesellschaftliche Ordnung. Dazu kommt die Beteiligung an den wirt-
schaftlichen Vorteilen imperialistischer Expansion. Im weitesten Sinne wirkt die
Systemstabilisierung angesichts imperialistischer Tendenzen im Hinblick auf die
wachsende Demokratisierung oder wegen der „sozialen Gefahr“. Auf sozialisti-
scher Seite wurde schon frühzeitig die Absicht herrschender Schichten erkannt,
durch imperialistische Tendenzen innere Spannungen nach außen abzuleiten.
Dabei griff man auf die Fiktion eines die Klasseninteressen übergreifenden, auf
äußere Machterhaltung und Expansion gerichteten Nationalinteresses zurück.
Dadurch sah man ein Mittel, dem Sozialismus ideologisch entgegenzuwirken.
[2]      

Infolge der Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 wurden die
damalig politisch Verantwortlichen in der Sowjetunion in den Publikationen der
Volksrepublik China ebenfalls „Sozialimperialisten“ genannt. Hier ging es um
die begrenzte Souveränität, die den sozialistischen Bruderländern eingeräumt
wurde (Breschnew-Doktrin). Unterwarf man sich ihr nicht, übte die Sowjetunion
eine „internationale Diktatur“ aus, d. h. eine Diktatur gegen die Völker anderer
Länder, um eine „sozialistische Gemeinschaft“ unter der Herrschaft des neuen
Zarenreiches, nämlich Kolonien des Sozialimperialismus zu bilden. Hierbei ver-
wies man auf die Zeit des I. Weltkrieges, insbesondere auf die Renegaten der II.
Internationale. [3]
    
Ramsay MacDonald nahm den I. Weltkrieg als vollendete Tatsache hin. Er ver-
schrieb sich gangbaren Wegen, wie der Krieg auf dem Verständigungsweg re-
lativ schnell und möglichst hypothekenfrei durch die Völker selbst beendet und
Bedingungen wie Inhalte einer dauerhaften Friedensordnung vereinbart werden
könnten.

MacDonald fürchtete die sich pazifistisch gebende extreme russische Linke unter
Lenin, weil sie die sozialistische Revolution öffentlich diskreditierte und damit der
Kriegspartei in die Hände arbeitete. Auch befürchtete er den Sieg Lenins und die
Aushandlung eines Separatfriedens mit dem dann triumphierenden deutschen Mi-
litarismus. Dies würde weitreichende europäische Neuordnungsvorstellungen, die
ein demokratisches Deutschland voraussetzten, unrealisierbar machen. [4]    

ANMERKUNGEN
[1] W. I. Lenin, Werke, Band 29, Dietz Verlag, Berlin-Ost 1961, Seite 493.
[2] Hans-Christoph Schröder, Sozialistische Imperialismusdeutung (Studi-
     en zu ihrer Geschichte), Kleine Vandenhoeck-Reihe, Göttingen 1973,
     die Seiten 57/58.  
[3] Dokumente des IX. Parteitages der Kommunistischen Partei Chinas,
     Verlag für fremdsprachige Literatur, Beijing (China) 1969, die Seiten
     101/2.
[4] Friedrich Weckerlein, Streitfall Deutschland (Die britische Linke und
     die „Demokratisierung“ des Deutschen Reiches – 1900-1918), Van-
     denhoeck & Ruprecht, Göttingen 1994, die Seiten 124 + 189.    
 

DAS ZITAT

Die Fabian-Society „predigte und praktizierte (den) Anschluss der Arbeiter
an  die  Liberalen…“ „Die Leute“ der Fabian-Society sind „eine  Clique von
bürgerlichen  ‚Sozialisten‘  gemischten  Kalibers, vom Streber bis zum Ge-
fühlssozialisten und Philanthropen, einig nur in ihrer Angst vor der drohen-
den Herrschaft der Arbeiter.“ (Marx-Engels, Ausgewählte Briefe, Dietz Ver-
lag, Berlin-Ost 1953, die Seiten 539/40)