AUTOR: Josef Theobald
 Im Rahmen einer Ausarbeitung möchte ich einmal näher beleuchten,
 welchen Stellenwert eigentlich die Werke Lenins in der Sowjetunion
 und in China in der Praxis hatten.
 In der Sowjetunion wurde der Leninsche Apparat durch die Sicht-
 weise Stalins bestimmt. Nach dem Tode Lenins legte dieser weit-
 gehend dessen Gedanken aus. Mit der Zeit wird vom Stalinismus
 gesprochen, der den Anspruch erhob, das alleinige Monopol der
 Auslegung der Worte Lenins zu besitzen. Deshalb sind auch die
 Werke Stalins neben die Werke Lenins zu stellen. Lenin selbst
 hatte zwar vor seinem Tode eine kritischere Haltung zu Stalin
 angemahnt, doch hatte allein schon der weitreichende Einfluss
 Stalins jede Kritik an seiner Person unmöglich gemacht.
 Nach dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 wurde in der
 Sowjetunion die Entstalinisierung eingeleitet. Dies hatte auch zur
 Folge, dass die Werke Lenins seit 1959 einer Revision unterzogen
 wurden. Für die Forschung bleibt aber die alte Fassung von 1947
 weiterhin interessant.
 In China hatte man sich bereits im Jahre 1919 während der 4.-Mai-
 Bewegung mit den klassischen Werken der Marxismus-Leninismus
 befasst. Im Juli 1921 fanden sich 13 Delegierte erstmals zusammen,
 um eine Kommunistische Partei in China zu gründen. Dabei wurden
 sie von einem Vertreter der Komintern Henrik Maring (1883-1942),
 einem niederländischen Kommunisten aus Indonesien, unterstützt.
 Nach dem verlorenen Russisch-Japanischen Krieg (1904-1905) war
 Russland durch den Frieden von Portsmouth gezwungen, die Mand-
 schurei räumen und die japanische Hegemonie in Korea anerkennen.
 So schwand der Einfluss in dieser Region. In späterer Zeit, vor allem
 nach der Niederlage der Roten Armee vor Warschau im August 1920,
 wandte sich Lenin besonders den Ländern Asiens zu. Plötzlich sah er
 verstärkt wieder bei den Hunderten Millionen Werktätigen Asiens einen
 zuverlässigen Verbündeten im Proletariat aller zivilisierten Länder an.
 „Keine Macht der Welt wird seinen Sieg aufhalten können, der sowohl
 die Völker Europas als auch die Völker Asiens befreien wird.“ (Ausge-
 wählte Werke in zwei Bänden, Band I, Seite 670, Dietz Verlag 1953)
 Diese Hilfe nahm man in China gerne an. Der damals bedeutende
 Diplomat Joffe (1883-1927) nahm im Namen der Sowjetregierung
 Kontakt zu Dr. Sun Yat-sen (1866-1925) auf, nachdem dieser sich
 bemühte, die von ihm gegründete Guomindang zu reorganisieren.
 Auf seine Veranlassung hin wurde mit sowjetischer Hilfe eine Militär-
 akademie gegründet, an dessen Aufbau sich auch die chinesischen
 Kommunisten beteiligten. Man hat aber zu wissen, dass die Schaffung
 eines militärischen Flügels innerhalb des ZK der KP Chinas zu dieser
 Zeit stark umstritten war. In den Anfangsjahren der Herrschaft Tschiang
 Kai-scheks legte man dies als Versuch aus, die Reihen der Guomindang
 und ihrer Streitkräfte zu unterwandern. Im Laufe der Jahre gingen die
 Sowjetunion und China aber getrennte Wege. Denn es gab innerhalb
 der KP Chinas jeher eine starke trotzkistische Strömung. Mao hatte
 zwar die Stalinisierung der KP Chinas erwartungsgemäß vollendet,
 die Position Stalins somit nach außen anerkannt, doch formte er die
 Partei in seinem Sinne um. Typisch war das fortgesetzte Studium der
 Dialektik im Hinblick auf eine nach praktischen Erfahrungen ausgelegte
 Widerspruchstheorie. Im Jahre 1980 erschien im Beijinger Verlag für
 fremdsprachige Literatur nach dem Vorbild der DDR der Sammelband
 „Marx – Engels – Marxismus“ mit eigenen Anmerkungen, der hier als
 Beispiel für den Standort der Werke Lenins in China gelten kann. Durch
 die gespielte Rolle der SED in der kommunistischen Weltbewegung, in
 der man besonders die deutschen Verdienste bei ihrer Gründung be-
 tonte, war man in China gezwungen gewesen, sich mit der Geschichte
 der Arbeiterbewegung selbst kritisch auseinander zu setzen und dann
 alles in Frage zu stellen, was nicht ausdrücklich durch zeitgenössische
 Quellen belegt war.
NACHTRAG
 Nach dem Vorschlag Lenins, auch in halbkolonialen Ländern so
 etwas wie Bauernsowjets zu gründen, ist man auch in China ge-
 folgt. Man gründete im Herbst 1927 im Jinggang-Gebirge erste
 revolutionäre Stützpunktgebiete. Dadurch sollte erreicht werden,
 dass man zum Kommunismus gelangt, ohne das kapitalistische
 Entwicklungsstadium durchgemacht zu haben. (Band Chinesische
 Geschichte, Beijing 2003, Seiten 199 + 200 / Lenin, Ausgewählte
 Werke in drei Bänden, Band III, die Seiten 528/29)
    
 Was die Person Lenins und Stalins angeht, ist ja in China erst in
 den letzten Jahren ein Umdenken zu beobachten. Durch die Aus-
 einandersetzung mit der Person Stalins und seiner Rolle in der
 Sowjetunion wird wahrscheinlich auch das Bild Lenins ebenfalls
 eine vorsichtige Veränderung erfahren haben. Doch schwankt
 immer noch in der offiziellen Forschung die Meinung über Lenin.
 War dieser etwa ein großer Revolutionär oder gar ein korrupter
 Machtpolitiker? Auf jeden Fall tragen beide eine Mitschuld am
 Untergang des Sowjetsystems in den Achtziger Jahren.   
Exkurs: DIE ERFORSCHUNG DER ARBEITERBEWEGUNG IN DER DDR
 Zunächst sei hier auf die Sozialstruktur in der früheren DDR hingewiesen.
 Die Gesellschaft dort war geprägt vom sozialistischen Kollektiv, mit dem
 jeder Staatsbürger konfrontiert war. Das Kollektiv begleitete ihn seit der
 Schulzeit über die Hochschulausbildung zum ausgeübten Beruf. Denn
 hier waren vor allem diese Tugenden prägend gewesen: Ordnungssinn,
 Gehorsam, Sauberkeit, Fleiß, Pünktlichkeit, Disziplin und Selbstdisziplin.
 Dies rief von klein auf einen unvorstellbaren Anpassungsdruck hervor.
 Im Westen dagegen gab es eine „kritische Jugend“, die alles hinterfragte
 und Widersprüche in der Gesellschaft aufspürte.  
 So bildeten im DDR-System „Politik und Geschichte“ stets eine Einheit.
 Historisches Forschen und Lehren waren im universitären Bereich der
 DDR unbestreitbar „gesellschaftlichen Erfordernissen“ untergeordnet.
 Für alle Historiker war also das hier propagierte “Geschichtsbild der
 Arbeiterklasse“ verbindlich. Was z. B. die Geschichte der Arbeiterbe-
 wegung betraf, gab es eine Dominanz auf der Seite des Institutes für
 Marxismus-Leninismus, die jede Abweichung von der Parteilinie auch
 erfolgreich hintertrieb. Da entstanden Selbstblockaden, die daran hin-
 derten, gewachsene Spielräume zu erkennen und zu nutzen.
 So kam es auch in der Praxis vor, dass die Geschichte der KPD in
 der Weimarer Republik zu Lasten der SPD geschönt wurde. Viel
 Zeit nahm man sich für die Vorgängerorganisationen. Doch waren
 diese innerhalb der Sozialdemokratie allerdings von ganz minimaler
 Bedeutung. Die Erwähnung des Spartakusbundes und der KPD ist
 dem außergewöhnlichen Ruf von Rosa Luxemburg und Karl Lieb-
 knecht mit deren Anhang zu verdanken. Nach beider Tod erlebte
 die KPD diverse Zerfallserscheinungen und wäre ohne die Hilfe
 Moskaus ganz in der Versenkung verschwunden.
 Eine kurze Renaissance erlebte die KPD mit dem Einmarsch der
 Roten Armee im früheren Mitteldeutschland. Doch durch die an-
 gestrebte Vereinigung von KPD und SPD zur SED verlor die alte
 KPD allmählich an Bedeutung. Übrig blieb nur der kommunistische
 Gedanke des Zusammenschlusses der Arbeiterklasse zu einem
 starken Machtapparat unter Walter Ulbricht (1893-1973), der sich
 im Nebenberuf selbst als Historiker verstand.        
 Einen Genuss von der Erziehung ehemaliger DDR-Bürger bekam
 man anlässlich eines Treffens des CRI-Clubs im Oktober 2010 in
 Freiburg (Breisgau). Hier traten wirklich zwei getrennte Welten
 gegeneinander auf. Offenbar gibt es im Westen Deutschlands
 immer noch Leute, die an derartigen Verhältnissen Gefallen
 finden, also das System der Indoktrination einer freien und
 pluralistischen Gesellschaft vorziehen.    
          
 Literaturhinweis
 – K. H. Pohl, Historiker in der DDR, Kleine Vandenhoeck-Reihe,
   Göttingen 1997, insbesondere die Seiten 40, 98, 113/14, 133.
 – W. I. Lenin, Werke, Band 39, Dietz Verlag, Berlin-Ost 1957,
    die Seite 493.  

