AUTOR: Josef Theobald
 Die Advokaten waren durch ihr Wissen und ihre Funktion in jene Rechts-
 sprechungs- und Rechtssysteme eingebunden, die seit dem späten 18.
 oder frühen 19. Jahrhundert in ganz Europa erneuert wurden. Die neuen
 Rechtssysteme sicherten das Eigentum und individuelle Rechte, und sie
 bevorzugten den Vertrag als Form der Regelung von Beziehungen. Damit
 wuchsen sie potentiell in eine zentrale Rolle als Experten und Vermittler.
 Seit dem frühen 19. Jahrhundert setzten sich die Advokaten mit liberalen
 Tendenzen auseinander, die zu einer gesellschaftlichen Selbststeuerung
 führte, die im Hinblick auf die Einführung von Gewerbe-, Handels-, Berufs-
 und Niederlassungsfreiheit neue Freiräume schuf. In Einzelfällen brachte
 dies dem Advokaten politische Partizipationschancen.
 Voraussetzungen für den Beruf des Advokaten waren nun neun Jahre
 Gymnasium, drei Jahre Rechtsstudium sowie eine vier- bis sechsjährige
 Referendarzeit. Schon damals setzte man nach deutscher Weise auf die
 Veredelung des Geistes und Charakters durch die reichen Mittel der hu-
 manistischen Bildung, auf ein freies Erziehungswerk mit soviel Elementen
 der Selbstdisziplin und Zensur, durch die infolge eines langen Weges das
 Unwürdige ausgeschieden, das relativ Bessere und Beste erhalten wird.
 Die Advokaten arbeiteten mit einem staatlich gesetzten Recht, das nach
 vorgeschriebenen Regeln und Prinzipien anzuwenden, also nicht frei aus-
 zulegen war. Durch die Einbindung der Ausbildung in die verstärkt staat-
 lich kontrollierten Universitäten und durch die schrittweise Verlängerung
 der bei staatlichen Stellen abzuleistenden Praktika im frühen 19. Jahr-
 hundert verloren vor allem in Deutschland die nicht verbeamteten Juri-
 sten den Einfluss auf die Sozialisation ihres Nachwuchses. Vor der Ein-
 führung des mündlichen Prozesses um die Mitte des 19. Jahrhunderts
 bestand zudem in weiten Teilen Deutschlands keine rhetorische Kultur,
 die eine Grundlage für eine eigenständige Advokatenidentität hätte ab-
 geben können.
 Ein Lichtblick war die „Juristische Wochenschrift“, die seit 1872 vom
 Deutschen Anwaltsverein (DAV) herausgegeben wurde, die Gerichts-
 entscheidungen und später auch Kommentare dazu veröffentlichte. So
 wurden damit die seit den 1830-er Jahren unternommenen Versuche
 fortgesetzt, das berufliche Wissen der Advokaten über die Kanäle zur
 Geltung zu bringen, die unter Ausschluss staatlicher Kontrolle seit der
 Einführung der Pressefreiheit möglich wurden. Dadurch wurde der Be-
 ruf des Advokaten aufgewertet und galt nunmehr als Profession.
 Der Anwalt verdiente in den ersten Berufsjahren des Praxisaufbaus
 mäßig; danach für zwei bis drei Jahrzehnte gut bis sehr gut; im Alter
 weniger, außer man hatte stabile Einkünfte als Treuhänder, Aufsichts-
 rat, Syndikus usw., denen man nicht täglich hinterher rennen musste.
 Anwälte, die in Armut starben, waren selten, aber Teil der Realität.
 Vielfach wohnten die vornehmlich städtischen Advokaten in einem
 eigenen Haus oder in einer großen Wohnung mit zahlreichen Wohn-
 und Geschäftsräumen. Die Advokatenhäuser lagen bis Ende des 19.
 Jahrhunderts mehrheitlich in der Altstadt, vorzugsweise in der Nähe
 der Gerichte und Ämter. Mit der Stadtexpansion gegen Ende des 19.
 Jahrhunderts zogen einige, den Geschäften folgend, in die neuen
 Vorortquartiere. Eine Minderheit siedelte sich in Villenvierteln an,
 behielt aber die Praxis im Stadtkern, der sich aber langsam zur
 City wandelte. Ein bürgerlicher Lebensstil, den die Advokaten
 pflegten oder zu pflegen versuchten, bedeutete auch, Dienst-
 boten zu beschäftigen. Wenn Advokaten Pferd und Kutsche
 hielten, war dies nicht bloß ein Statussymbol, sondern gerade
 in ländlicheren Gebieten auch als Verkehrsmittel notwendig.
 Das Einkommen des Advokaten reichte meist, manchmal allerdings
 nur unter Rückgriff auf die Mitgift der Ehefrau oder auf ein Erbe, für
 eine materiell aufwendige Ausbildung der Söhne und eine standes-
 gemäße Mitgift der Töchter, die durch ihre Verheiratung keinen Status-
 verlust erleiden sollten. Manche Rechtsanwälte erlaubten sich schon früh,
 für einige Wochen in die Ferien oder zur Kur zu fahren. Sie zählten so zu
 dem gemischten aristokratisch-bürgerlichem Publikum der entstehenden
 Fremdenverkehrsindustrie. Jüngere oder weniger beschäftigte Advokaten
 betätigten sich auch künstlerisch. Und es erstaunt nicht, dass die Gruppe
 der Advokaten ein Rekrutierungsfeld für vollberufliche Schriftsteller und
 Künstler wurde.
 Wenn sich die Advokaten auf verschiedene politische Richtungen ver-
 teilten, so waren sie insgesamt doch stärker in jenen liberalen, demo-
 kratischen und christlichen Parteien vertreten, die die bürgerliche Ge-
 sellschaft nicht prinzipiell in Frage stellte. Dann erst gegen Ende des
 19. Jahrhunderts bildete sich der Typ des sozialistischen Anwalts her-
 aus, der sich beruflich als Strafverteidiger sowie als ein Experte für
 Arbeits- und Unfallrecht profilierte und dessen Kundschaft stärker
 aus dem Arbeitsmilieu stammte. [1]
Exkurs: DER ANWALTSBERUF IN CHINA
 In den letzten Tagen war in der Presse zu vernehmen, dass in der
 Volksrepublik China ein Bürgerrechtsanwalt zu einer mehrjährigen
 Haftstrafe verurteilt wurde. In der Volksrepublik haben wir ein mit
 unserem Rechtssystem kaum vergleichbares. Hier gibt es ein in
 der Vergangenheit etabliertes kommunistisches Parteiensystem,
 das sich sehr stark an stalinistischen und konfuzianischen Werten
 orientiert.
 Ein Anwaltssystem wie bei uns hat es in der zweitausendjährigen
 Feudalgeschichte Chinas nie gegeben. Erst mit dem Eintritt in die
 Neuzeit wurde ein Anwaltssystem nach westlichem Vorbild einge-
 führt. 1914 brachte die Guomindang-Regierung ein Rechtsanwalts-
 gesetz heraus, das fortan in die Praxis umgesetzt wurde. Aber nur
 eine kleine Anzahl von Anwälten war aufrichtig und unparteiisch.
 Nach der Gründung der Volksrepublik China wurde das Anwalts-
 system abgeschafft und durch ein Netz von Rechtsberatungsstellen
 ersetzt. So gab es von 1954 bis 1957 im ganzen Land über 800 ein-
 gerichtete Rechtsberatungsstellen mit rund 2500 beruflichen und 300
 nebenberuflichen Anwälten. Während der Kulturrevolution ist dieses
 System wieder abgeschafft worden. Erst 1979, im Zuge des Aufbaus
 eines sozialistischen Rechtssystems, wurde ein funktionierendes An-
 waltssystem erneut hergestellt. Im August 1980 verabschiedete dann
 der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses „Die Proviso-
 rischen Bestimmungen über die Arbeit der Rechtsanwälte in der Volks-
 republik China“. So gab es im Lande wieder etwa 15.000 haupt- und
 nebenberufliche Anwälte. Auch wurden 2350 Rechtsberatungsstellen
 gegründet und in den 14 Provinzen, regierungsunmittelbaren Städten
 und autonomen Gebieten wurden Anwaltsverbände ins Leben gerufen.
 In China sind die Rechtsanwälte im Gegensatz bei uns juristische Mit-
 arbeiter des Staates. Sie sind nicht freiberuflich tätig. Kurz gesagt, die
 Aufgabe der Anwälte besteht darin, Rechtshilfe zu gewähren, um die
 richtige Ausführung der Gesetze zu gewährleisten und die Interessen
 des Staates und der Kollektive sowie die legitimen Rechte und Inter-
 essen der Bürger zu schützen.
 Weiterhin sind die Anwälte in der Volksrepublik China Staatsangestellte,
 die von den Rechtsberatungsstellen bezahlt werden. Gleichzeitig stellt
 der Staat durch die Gesetzgebung und durch die Überwachung auf
 Seiten der juristischen Verwaltungsorgane sicher, dass die Anwälte
 entsprechend den Gesetzen ihre Funktion erfüllen und ihren Pflichten
 in richtiger Weise nachkommen. [2]
Band II: Wirtschaftsbürger und Bildungsbürger, Kleine Van-
denhoeck-Reihe, Göttingen 1995, Seiten 170 – 193.
Beijing Rundschau, Beijing 1987, Seiten 55/56 + 60.

